„Da Poite“ – der siebte Bua

von Hans Obermair

Der besondere Lebenslauf eines „Obdachlosen“, der auch ein kleiner Philosoph war

Sucht man im Internet unter dem Begriff „Obdachloser“, so lassen sich hierzu ein paar Dutzend verschiedene Bezeichnungen finden. Der „Poite“, den ich in meiner Kinder- und Jugendzeit kannte, war ein sol­cher. Aber dass man seine Person mit einem Begriff oder gar mit einer ab­wertenden Bezeichnung in Verbindung brachte, daran kann ich mich nicht erinnern. Wenn er da war, gehörte er einfach dazu – und wenn nicht, ging er auch nicht ab. Schließlich hatte er in München und dem Münchner Um­feld mehrere Anlaufstellen. Und irgendwo, wenn nicht bei uns, war er dann schon.

Über „Poites“ Person weiß man nur so viel: Geboren wurde er 1899 im Mit­telfränkischen. Aufgewachsen muss er in Feuchtwangen sein, wo sein Va­ter beim Rentamt beschäftigt war. Er war der siebte Sohn seiner Familie. Deshalb kam er zu seinem „königlichen“ Namen Luitpold. Bayerns Prinzre­gent Luitpold (1820 – 1912) war nämlich wahrscheinlich per Verordnung automatisch Taufpate, wenn eine Familie einem siebten Sohn das Leben schenkte. Dieses Attribut, wird ihm außer einem Erinnerungsgeschenk, vielleicht war es ein üblicher „Tauftaler“, wenig gebracht haben. Das „Poi- te“, wie man ihn kurz nannte, wird aber auch schnell den königlichen „Luit­pold“ überdeckt haben. Ihm war es sicher lieber, denn die Erinnerung im Rufnamen an den „hohen“ Taufpaten hätte ihm vielleicht Einiges an Etiket­te abverlangt, und das war nicht das Seine.

Die Familie hat sicher einen guten Status gehabt, sonst hätte deren „sieb­ter Bua“ nicht eine Bäckerlehre machen können. Damals mussten die El­tern noch „Lehrgeld“ zahlen. 1917 bekam der „Poite“ eine Stiefmutter. Ab diesem Jahr ist er in München gemeldet. Bei der Musterung im März 1918 finden wir ihn als Bäckergesellen, aber auch als Hilfsarbeiter. Sein Militär­dienst dauert nicht lange, dann ist der Krieg aus. Dem Kriegsende 1918 folgte, nicht nur für den „Poite“, eine bettelarme Zeit. Die nächsten zehn Jahre wohnt er in und um München. Tätigkeit ist keine genannt. Bis 1959 sind 15 verschiedene Wohnsitze verzeichnet. Nicht lückenlos.

Mutmaßlich hatte er auch von seiner Familie nicht mehr die nötige Unter­stützung und so hat es ihn „aus der Bahn geschmissen“. Wie er sich „durchgehauen“ hat, kann man nur ahnen. Ebenso weiß man nicht, was er während des Zweiten Weltkriegs gemacht hat. Vielleicht ist er sogar „un­tergetaucht“. Seine Fähigkeiten, mit der Natur zu leben, die er nach dem Krieg unter Beweis gestellt hat, lassen dies vermuten.

Jedenfalls nach dem Krieg war der „Poite“ da. Und hier beginnen meine persönlichen Erinnerungen. In der Regel kam er am späten Abend mit dem Zug aus München. Natürlich unangemeldet. Die Örtlichkeiten und wie man in Stall oder Scheune kommen konnte, war ihm ja bekannt. So konnte er bei uns im Sommer in der Scheune und in der kälteren Jahreszeit im Stall, hinter den Kühen, wo die Einstreu gelagert war, übernachten. Einmal sorgte er für einen kräftigen Schreck der „Schweizerin“ (Melkerin). Der „Poite“ hatte sich in die Streu eingegraben und war unsichtbar. Und als sich der ganze Streuhaufen plötzlich rührte, kam es eben dazu. Sicher hat er das mit einem fröhliche Lachen quittiert.

In der Regel lebte er aber vom Wohlwollen der anderen. Seine Kleidung

bestand aus geschenkten, abgetragenen Stücken. Und so konnte es sein, dass seine „Wintergarderobe“ im Sommer dann an einem Nagel im Stadel hing. Dort blieb sie auch, wir wussten ja: Da „Poite“.

In der Gaststube, wo ihm am Morgen von uns immer ein „Weidling“ (Schüssel) mit Kaffee und mit viel Brot zum Einbrocken serviert wurde, musste er allein an einem Tisch sitzen, wegen seines Geruches. So war es auch, wenn Gäste da waren. Sein Bier bestand aus den „Noagaln“, die an­dere übrig gelassen hatten und vielleicht aus so mancher gespendeten „Hoibe“. Und manchmal hat es auch zu einem Räuscherl ausgereicht. Der „Poite“ schmetterte dann seine „Arien“ von seinem „Sperrsitz“ aus – nicht ganz ohne Talent. Für seinen Nikotinbedarf besorgte er sich die Kippen aus den Aschenbechern und dreht sich „eine“. Zwischendurch bediente er sich auch aus einem Dämpfer, wo die Kartoffel für die Schweinemast „ge­dämpft“ wurden. Nicht nur bei uns.

Der „Poite“ war ein Pflanzenexperte. Mit dem Schwammerl sammeln, dem Sammeln von Blumen und Kräutern, sowie dem Sammeln, Binden und Färben von Distelsträußen verdiente er sich, je nach Saison, ein paar Mark. Die Disteln färbte er bei uns im Waschhaus mit staubiger, roter Anilinfar­be. Da waren dann nicht nur die Distelköpfe rot, sondern auch sein Ge­sicht, die Hände und sein Bart. Dies störte ihn aber nicht. Wie er sagte, bie­te er seine Sträuße vornehmlich in Metzgereien und Bäckereien in Mün­chen an. Auf die Frage, warum denn gerade dort, verriet er sein Geschäfts­geheimnis: Dieser Kundenkreis kaufe am schnellsten, damit er möglichst umgehend den Laden wieder verließ. Warum, kann man sich denken. Hat­te er Geld, so kam es durchaus vor, dass er uns Buben ein Zehnerl schenk­te. Neidig war er nicht. Er lebte eben nach dem Motto: „Kimmt da Tog, bringt da Tog“. War er in München, schlief er manchmal im Obdachlosen­heim an der Pilgersheimerstraße. Ungern, wie er zu erkennen gab. Dort musste man sich ausziehen und waschen, die Freiheit war eingeschränkt. Und die war das höchste Gut des „Poite“.

Als wir 1951 von Peiß wegzogen, dauerte es nicht lange bis uns der „Poite“ in Ottersberg wieder „entdeckte“. Auch da war er dann immer wieder un­ser Gast – zu den gleichen Bedingungen. Sein zu ertragenes Handicap war unter anderem, nicht etwa sein fast zahnloser Mund, sondern sein Bruch, der ihm oft Schmerzen bereitete. Er konnte diesen immer wieder selbst zurück drängen. Alle guten Ratschläge, die man ihm, sicher auch in der Pil- gerheimerstraße, gab: „Lass dich doch operieren“, wurde von ihm mit dem Bemerken „geht scho wieda“ abgelehnt. Eines Tages, etwa 1959, kam der „Poite“ nicht mehr. Vielleicht hat er es einmal nicht mehr geschafft, sich

selbst zu helfen. Wo? Wie? Wir wissen es nicht. Wie er es gewünscht haben könnte: Unter Bäumen – neben Steinpilzen. So wie er immer unverhofft kam, jetzt eben nicht mehr.

Ja der „Poite“: Nicht einmal ein Foto gibt es von ihm, so selbstverständlich war er uns. Seine persönliche Freiheit ging im über alles. Ich glaube nicht, dass er je einen Antrag auf Hilfe oder Zuschuss gestellt hat.

Er war sicher ein kleiner Philosoph, der aus seinem Urteil und seinem Ge­fühl heraus lebte und dies auch mit seinem Alltag rechtfertigte. Immer in der Art des Zufriedenen. Er hätte uns „Emsigen“ sicher viel zu sagen ge­habt. Aber „Poites“ Ratschlag – damals? Und heute? Nach rund 70 Jahren – es hat sich nichts geändert.

Hans Obermair ist Heimatforscher. Er lebt in Glonn.

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